Emotion als Vorhersage: Warum Trader die Märkte nicht sehen, wie sie sind, sondern wie sie fühlen

© 2025 Andreas Heinz - (Bild wurde mit KI generiert)

 

Ein Blick auf Denise Shulls neuropsychologischen Ansatz und die unterschätzte Gefahr der jahrelangen Hausse

 

Seit der Finanzkrise 2008 haben sich die Märkte, mit wenigen Unterbrechungen, in eine Richtung bewegt: nach oben. Zentralbanken fluteten das System mit Liquidität, Zinssenkungen trieben die Bewertungen, das Narrativ „Buy the Dip“ wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Doch was bedeutet es, wenn sich nicht nur Marktstrukturen, sondern auch die Art der Wahrnehmung selbst langfristig verändert? Und welche Rolle spielen dabei Emotionen?

Die Neuroökonomin Denise Shull liefert einen ebenso provokanten wie fundierten Beitrag zur Debatte: „Every single piece of human perception is a prediction.“ Wer glaubt, die Märkte objektiv zu beobachten, unterliegt einem Denkfehler. Wahrnehmung ist kein passiver Prozess, sondern das Ergebnis emotional geprägter Vorhersagen des Gehirns.

Shull stützt sich auf moderne Theorien der Hirnforschung, insbesondere auf das Konzept des predictive coding. Demnach konstruiert das Gehirn permanent Vorhersagen auf Basis früherer Erfahrungen, Gefühle und situativer Kontexte und gleicht diese mit aktuellen Sinneseindrücken ab. Kommt es zu Abweichungen, entsteht ein sogenannter „prediction error“, der die mentale Erwartung anpasst oder verdrängt. Diese Grundlogik betrifft nicht nur Alltagswahrnehmung, sondern gerade auch das Verhalten auf Finanzmärkten. Denn auch dort sind es emotionale Hypothesen, die bestimmen, was als „Chance“ oder „Risiko“ gesehen wird. Trader handeln nicht auf Basis reiner Daten, sondern auf Basis dessen, was sie zu sehen glauben und dieser Glaube ist emotional geprägt.

Ein einfaches Beispiel verdeutlicht die Tragweite dieses Konzepts: Wer in einem dunklen Flur ein Geräusch hört, nimmt nicht einfach neutral einen Ton wahr, sondern interpretiert ihn, je nach emotionalem Zustand, als Bedrohung oder als bedeutungslos. Wer ängstlich ist, „sieht“ vielleicht einen Einbrecher, wo in Wirklichkeit nur eine Vase umgefallen ist. Die emotionale Erwartung formt die Wahrnehmung. Genau dasselbe geschieht auf den Märkten, nur mit Charts statt "bedrohlichen Schatten".

 

Die besondere Herausforderung ergibt sich aus dem strukturellen Marktumfeld der letzten Jahre. Wer zwischen 2009 und 2021 aktiv war, wurde konditioniert: Rücksetzer bedeuteten Einstiegschancen, Liquiditätstrends überlagerten Fundamentaldaten und Enttäuschungen wurden regelmäßig durch geldpolitische Unterstützung abgefedert. Diese Erfahrungen bildeten emotionale Erwartungsmuster, die tief verankert wurden und heute unbewusst weiterwirken.

Auch die Phase ab 2022 hat daran wenig verändert. Zwar war der kurzfristige Einbruch durch Zinswende, Inflation und geopolitische Schocks durchaus markant, doch die schnelle Erholung erfolgte zu rasch, als dass eine tiefgreifende Verhaltensanpassung stattfinden konnte. Wer früh wieder einstieg, wurde erneut belohnt und damit in seiner emotionalen Vorhersage bestärkt. Die neuronalen Muster, die bereits seit über einem Jahrzehnt aufgebaut waren, wurden nicht infrage gestellt, sondern sogar weiter gefestigt. Statt einer Korrektur der inneren Erwartungshaltung erfolgte ihre Bestätigung. Das Gehirn lernte: Rückgänge bleiben Kaufgelegenheiten. Dadurch verfestigte sich ein Wahrnehmungsmodell, das möglicherweise nicht mehr zur neuen Marktrealität passt.

Der Anleger sieht einen Rückgang und interpretiert ihn nicht als strukturelles Warnsignal, sondern als Gelegenheit, weil sein Gehirn genau das vorhersagt, gestützt durch jahrelange Belohnung dieses Verhaltens. Die Wahrnehmung selbst ist nicht mehr neutral. Sie ist Ergebnis eines emotionalen Modells, das einst funktionierte, nun aber möglicherweise nicht mehr zur Realität passt.

 

Shull warnt eindringlich vor der Annahme, man könne sich mit Daten, Charts und Analysen von Emotionen befreien. Im Gegenteil: Wer Emotionen ignoriert, ist ihnen am stärksten ausgeliefert. Nur wer erkennt, dass jede Marktbeobachtung von emotionalen Vorannahmen durchdrungen ist, kann gezielt gegensteuern. Ihr entwickeltes „R-Framework“ (Recognize – Reflect – Reframe – Respond) gibt einen klaren Handlungsrahmen vor. Es geht darum, emotionale Reaktionen nicht zu unterdrücken, sondern sie als Informationsquelle zu analysieren: Was sagt mir mein Gefühl? Worauf basiert meine aktuelle Erwartung? Ist sie noch gültig, oder ein Relikt vergangener Marktphasen?

Der Unterschied zwischen erfahrenen und überforderten Anlegern liegt nicht in der Menge an Information, sondern in der Fähigkeit, eigene emotionale Vorhersagen zu erkennen, zu reflektieren und bei Bedarf zu korrigieren. Wer sich bewusst ist, dass auch die eigene Analyse nur eine emotionale Projektion ist, entwickelt eine strategische Tiefe, die über technische Indikatoren hinausgeht. Emotionale Intelligenz ist damit kein Soft Skill, sondern ein zentrales Element erfolgreicher Kapitalmarktstrategie,  besonders in Zeiten erhöhter Unsicherheit, geopolitischer Umbrüche und wachsender Volatilität. Wer seit Jahren an steigende Märkte gewöhnt ist, trägt ein Wahrnehmungsmodell in sich, das in einer sich wandelnden Welt zur Gefahr werden kann. Die Lösung liegt nicht in der Unterdrückung von Gefühlen, sondern in deren bewusster Analyse. Nur wer erkennt, wie er sieht, kann erkennen, was er sieht. Dass auch der vielleicht disziplinierteste Investor der Gegenwart, Warren Buffett, zuletzt entgegen dem Markttrend seine Cash-Position erheblich ausgeweitet hat, zeigt, wie wertvoll ein klarer Blick jenseits kollektiver Erwartungen sein kann, nicht als Reaktion auf Charts, sondern als bewusste Entscheidung gegen eine allzu bequeme Vorhersage.

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